Kaum zu rechtfertigen?
Wie können Menschen angesichts des Leidens in dieser Welt an einen gütigen und allmächtigen Gott glauben? Im Communicatio-Magazin 1/2019 formuliert Dr. Andreas Loos, Dozent des Theologischen Seminars St. Chrischona (tsc) für Systematische Theologie, eine leidsensible Lehre von Gott. Und er gibt eine Antwort, wie Menschen im Leid ein Ja zu Gott finden können: Denn Gott selbst erleidet die Übel und das Böse der Welt. In der Auferweckung Jesu Christi von den Toten hat er unter Beweis gestellt, dass Tod und Leiden nicht das letzte Wort haben. Dr. Loos schreibt:
Das Leid ist – nach wie vor – der Fels des Atheismus. Da stimme ich Joachim Kahl erst mal zu (Anm. d. Redaktion: Dr. Dr. Joachim Kahl hat in einem anderen Beitrag im Communicatio-Magazin die zwei Säulen des Atheismus definiert). Die personal-theistische Vorstellung von einem gütigen, allmächtigen und allwissenden Gott, der die Welt erhält, regiert und zu einem guten Ziel lenkt, zerschellt vielen Menschen, wenn sie mit der üblen, leidvollen und schmerzhaften Dimension des Lebens konfrontiert sind. Aber ich bin so frei und frage zurück: Kann denn der Atheismus vernünftigere und hilfreichere Antworten geben, um die Leiden der Welt zu bewältigen? Der Philosoph Holm Tetens, der sich selbst zu den atheistischen Naturalisten zählt, ist eindeutig skeptisch (Gott denken, S. 78):
«In der Perspektive des Naturalismus lässt sich gegen die Übel und Leiden in der Welt ankämpfen, aber nur in einer problematischen Haltung wie der Resignation, der tragischen Auflehnung, des zynischen egoistischen Hedonismus oder des selbstzerstörerischen Selbsterlösungswahns und in jedem Falle in der moralischen Verlegenheit, ungeheuer viel von den Übeln und Leiden in der Welt bestenfalls als Mittel zum Menschheitsfortschritt einen vermeintlichen Sinn zu verleihen.»
Weil mir die leidenden Menschen am Herzen liegen, höre ich nicht damit auf, das Leid theologisch – also auf dem Weg über Gott – zu bedenken. Der Fachausdruck dafür heisst «Theodizee».
1. Theodizee: Das «Ja» zu Gott und zum Leben offenhalten
Der Begriff, das Problem und die Aufgabe
Setzt man die griechischen Wörter theos (Gott) und dike (Gerechtigkeit) zusammen, dann entsteht der Begriff Theodizee. Es geht dabei nicht um eine Rechtfertigung Gottes, wenn er wegen des Leides in der Welt auf der Anklagebank sitzt. Es geht darum, die Beziehung des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zu Gott zu rechtfertigen und zu plausibilisieren.
Nun macht der Atheismus ja genau das Gegenteil. Für ihn ist das quantitative und qualitative Ausmass an Leid ein schlagender Grund dafür, dass es Gott gar nicht gibt. Damit sind wir beim sogenannten Widerspruchsproblem. Es ist wohl so alt wie die Menschheit. Kompakt und logisch hat es der Kirchenvater Laktanz (ca. 250-320) in seiner Schrift über den Zorn Gottes formuliert (zitiert nach Stosch, Theodizee, S. 10):
«Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht: Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft, oder er kann es und will es nicht: Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist, oder er will es nicht und kann es nicht: Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott, oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?»
Theoretische und praktische Theodizee
Wer dieses Widerspruchsproblem zu lösen versucht, betreibt theoretische Theodizee. Viele schütteln den Kopf und lehnen das ab. Sie plädieren für eine praktische Theodizee. Die Hauptargumente sind:
- Wegen der Geheimnishaftigkeit und Unbegreiflichkeit Gottes bleibt auch die Erfahrung des Leides letztlich unerklärlich.
- Alle theoretischen Erklärungsversuche neigen dazu, Leid zu verharmlosen und die Leidenden selbst nicht ernst zu nehmen oder gar zu vernachlässigen.
- Leidende Menschen suchen nicht zuerst nach theoretischen Erklärungen, um Leid zu verstehen, sondern nach praktischer Hilfe, um im Leid zu bestehen.
Das sind berechtigte Vorbehalte. Zugleich aber mache ich folgende Erfahrung: Für viele Menschen ist der denkerische Widerspruch zwischen Gott und Leid so stark, dass es ihnen überhaupt nicht hilft, zu hören: «Ja, Gott und sein Handeln sind unbegreifbar, aber Du kannst trotzdem weiter an ihn glauben.» Die praktische und die theoretische Theodizee bedingen sich wechselseitig. Das macht die grau hinterlegte Auflistung deutlich. Wie ein Mensch mit Leid umgeht, hängt erheblich davon ab, wie er darüber denkt.
Ich plädiere für eine Theologie, die auf der Seite der Leidenden steht. Wer das tut, weicht der atheistischen Infragestellung Gottes nicht aus, sondern packt das Widerspruchsproblem an. Ziel ist es, das Ja zu dem Gott offen zu halten, der uns begegnen und helfen will, Leid zu verarbeiten und zu bewältigen, um ein neues Ja zum Leben zu finden.
Theoretische Theodizee:
Leid verstehen
- Leiden hat einen höheren Sinn.
- Leiden ist unergründlich.
- Leiden ist eine Strafe Gottes.
- Leiden hat lebensvertiefende Wirkung.
- Leiden ist irdisch begrenzt und nicht ewig.
- Leiden ist nicht Gottes Wille.
- Leiden kommt schicksalhaft.
Praktische Theodizee:
Leid bewältigen
- Ich optimiere mich durch das Leid.
- Ich stemme mich gegen das Leid.
- Ich erdulde das Leid.
- Ich integriere das Leid positiv ins Leben.
- Ich stelle mich dem Leid und besiege es.
- Ich nehme das Leid an, wie es kommt.
- Ich hoffe auf leidfreie Zeiten.
2. Populäre Strategien zur Lösung des Widerspruchsproblems
Die atheistische Infragestellung Gottes aufgrund des Leides folgt logisch aus den theistischen Prämissen A), B) und C), die über Gott und das Leid aufgestellt werden. Was aber, wenn diese Annahmen so nicht stimmen? Was, wenn wir gute Gründe dafür angeben könnten, die erklären, warum und wozu Gott das Leiden nicht verhindert oder beseitigt? Dann wäre der Atheismus nicht mehr zwingend. Man müsste dazu entweder das Leiden anders interpretieren oder aber die Eigenschaften der Güte, Allmacht und Allwissenheit Gottes. Ich präsentiere nun kurz die wichtigsten Ansätze und frage jeweils, wie tauglich und leistungsfähig sie für die Lösung des Theodizeeproblems sind.
Das Leid positiv interpretieren (Bonisierungsstrategie)
Wenn man zeigen könnte, dass das Leid letztlich dem Guten (bonum) dient, wäre es gerechtfertigt an einen Gott zu glauben, der das Leid nicht verhindert oder aus der Welt schafft. Die wichtigsten Ansätze, das Leid und die Übel zu entübeln, lassen sich so skizzieren:
Funktionalisierung des Leides
Durch Übel und Leid entwickeln sich Natur, Menschsein und Geschichte weiter. So erwerben wir Menschen uns das Wissen über Gut und Böse dadurch, dass wir Leid erfahren und Schmerz empfinden. Nur, wenn es das Böse gibt, kann der Mensch sich für das Gute entscheiden und so zu einem moralischen Wesen werden. Wertvolle Tugenden wie Solidarität, Treue, Tapferkeit, Mitleid entstehen auf der Basis von Leiderfahrungen. In seiner Theodizee der Seelenbildung (soul-making theodicy) verstand der Theologe John Hick die Übel und das Leid als Bedingungen dafür, dass der Mensch zu einer Persönlichkeit heranreift und sich für Gott entscheidet. Manche Theologien versuchen zu erklären, dass Gott den Sündenfall vorherbestimmt hat, damit der Mensch sich wirklich für Gott und für das Gute entscheiden kann. Dass Gott die Menschen durch das Leiden reifen lässt und auf den (leidlosen) Himmel vorbereitet, ist ein Gedanke, der in zahlreichen geistlichen Liedern Ausdruck gefunden hat: «…denn durch Trübsal hier geht der Weg zu Dir», dichtete Zinzendorf in seinem Lied «Jesu, geh voran».
Pädagogisierung des Leides
Eng verwandt mit der Funktionalisierungsstrategie ist die Sicht, dass Gott durch das Leiden den sündigen Menschen straft und ihn – letztlich aus Liebe – erzieht. Gerade für die Opfer, denen Böses und Übles zugefügt worden ist, kann der Gedanke, dass Gott die Täter straft, wichtig sein. Eine lange und biblische Tradition sieht im Leiden Prüfungen Gottes, durch die er die Glaubensresilienz der Menschen stärkt. Not lehrt beten. Leiden vertieft die Gottesbeziehung.
Ästhetisierung des Leides
Vertreter dieser Strategie argumentieren so: Schönheit und Harmonie, Glück und Freude kann es nur geben, wenn es auch das Hässliche und die Dissonanz, das Unglück und die Trauer gibt. Schuld führt zur Vergebung und Versöhnung, gemeinsames Erleiden führt zu einer Glücksvertiefung in zwischenmenschlichen Beziehungen; Not schweisst zusammen. Vielleicht eine der bekanntesten Bibelstellen in diesem Zusammenhang ist Römer 8,28: «Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.» Gott mutet niemandem mehr zu, als man tragen kann.
Zur Theodizeetauglichkeit
Leidgeplagte Menschen bezeugen, wie aus ihrem Leiden in erstaunlicher Weise Gutes erwachsen ist. Es gibt Leiden, die einem höheren Gut dienen, was ein Grund dafür sein könnte, dass Gott es nicht verhindert. Das kann als Argument gegen den Atheismus eingebracht werden. Aber dieser Aspekt darf nun nicht absolut gesetzt werden. Etwa indem man den Menschen theologisch demonstrieren will, dass ihr Leiden auf jeden Fall einen höheren Sinn hat, den sie vielleicht jetzt noch nicht – oder gar erst nach dem Tod – erkennen. Römer 8,28 wird dann zu einem Prinzip für jede Erfahrung von Leid erhoben. Es gibt aber Leiderfahrungen, die weder als sinnvoll erlebt noch als sinnvoll gedacht werden können, weil sie quantitativ und qualitativ schlicht masslos sind. So wäre es ein Hohn zu behaupten, der Holocaust, ein Tsunami oder sexueller Missbrauch würden dieser Welt zu einem höheren Gut dienen. Als würde der Geschichte Gottes mit der Menschheit etwas fehlen, wenn solche Ereignisse nicht passiert wären! Es gibt sinnloses Leiden. Jede Theologie, die das nicht festhält, trägt in sich die Tendenz, Leiden und Übel zu bagatellisieren auf Kosten der leidenden Personen.
Gottes Eigenschaften anders interpretieren
Statt das Leiden neu zu fassen, könnte man das Widerspruchsproblem auch lösen, indem man die Eigenschaften Gottes neu interpretiert. Ich beschränke mich auf Gottes Güte und Allmacht.
Die Güte Gottes
Vielleicht sind Gottes Güte und moralische Vollkommenheit ganz anders als wir sie uns vorstellen. Nicht wenige Denker kritisieren die flauschige und kuschlige Vorstellung vom Gott der Liebe und schlagen vor, die dunklen und schrecklichen Seiten Gottes nicht zu vergessen. Dabei will man einen schroffen Dualismus vermeiden, demgemäss Gott gut und böse zugleich ist. Aber mit Hinweis auf entsprechende Bibelstellen führt man die Übel und die Leiden unmittelbar auf Gott zurück. Wo nun völlig unverständlich bleibt, warum und wozu Gott auf böse Weise handelt, verweisen die Vertreter dieses Ansatzes gerne auf den lutherischen Gedanken des verborgenen Gottes (Deus absconditus). Das leidverursachende Handeln Gottes bleibt unbegreiflich.
Andere sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass Gott die Leiden und Übel lediglich zulässt. Zur Entlastung Gottes führt man hier die Figur des Teufels und seiner Dämonen ein. Dieser Erklärungsansatz dient dazu, die Allmacht und Souveränität Gottes zu wahren, ohne seine Güte komplett zu verdunkeln.
Die Allmacht Gottes
Mit der Neuinterpretation von Gottes Allmacht will die Theologie an Gottes Güte festhalten und zugleich Übel und Leid als das, was nicht sein soll, fassen. Der Philosoph Hans Jonas sah keine andere Möglichkeit, um nach
Auschwitz von Gott reden zu können: Gott hat nicht deshalb nicht eingegriffen, weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Mit der Erschaffung der Welt hat Gott seine Allmacht aufgegeben. Damit ist das Theodizeeproblem aber immer noch nicht ganz gelöst. Denn Gott bleibt als Schöpfer letztlich dafür verantwortlich, eine Welt ins Leben gerufen zu haben, die er nicht bewältigen und vor dem Übel bewahren kann. Die Prozesstheologie versteht deshalb Gottes Allmacht von Ewigkeit her nicht als zwingendes und kontrollierendes, sondern als werbendes, lockendes und überredendes Handeln.
Zur Theodizeetauglichkeit
Tatsächlich löst sich das Problem der Theodizee auf, wenn man an einen Gott denkt, der nicht gütig oder völlig anders gütig ist als wir es uns vorstellen. Aber diese Lösung geht auf Kosten des Glaubens. Denn Glaube meint biblisch betrachtet, dass ein Mensch sich existenziell und ganzheitlich in Vertrauen, Liebe und Hoffnung an Gott hingibt und ihn verehrt. Dies geht aber nur, wenn Gott glaubwürdig, vertrauenswürdig und liebenswürdig ist. Nur einem Gott, der es gut mit uns meint und uns liebt, können und sollten wir unseren Glauben schenken. Die Neuinterpretation der Güte Gottes giesst daher noch zusätzlich Öl in das Feuer von Leiderfahrungen. Wenn Gott mir – einfach weil er es will – Übel und Leiden zufügt, wenn er das auch in unberechenbarer Weise zukünftig tun könnte, dann bin ich dem Leiden in einer entsetzlich hoffnungslosen Weise ausgeliefert.
Auch der Einbezug des Teufels bietet nur scheinbar eine Lösung. Die Frage bleibt, warum Gott Kreaturen gewollt und geschaffen hat, die in der Lage sind, derart viel und schwerwiegendes Leid über die Menschen zu bringen. Und aus den gleichen Gründen darf der christliche Glaube auch den Gedanken an die Allmacht Gottes nicht verabschieden. Wenn Gott dem, was seine Schöpfung peinigt, quält und verdirbt, völlig ohnmächtig gegenübersteht, warum soll ich dann aus der Tiefe der Leiderfahrung überhaupt noch an ihn glauben?
3. Das Leid der Menschen auf dem Hintergrund der drei-einen Liebe Gottes
Die bisher angerissenen Lösungsstrategien haben alle ihre Grenzen. Das hält mich aber nicht davon ab, ihre verheissungsvollen Aspekte und Impulse aufzunehmen, wenn ich nun versuche, gute Gründe zu nennen, an Gott im Leid zu glauben. Und natürlich werden damit auch nicht alle Fragen und Probleme gelöst.
Die Selbstbestimmung Gottes zur Gemeinschaft der Liebe mit den Menschen
Wer Gott ist und in welchem Verhältnis er zu uns steht, das hat er in Jesus Christus unübertroffen gezeigt. In ihm hat Gott sich selbst definiert als eine Liebe, die sich selbst hingibt, sogar für ihre Feinde!
Diese Liebe Gottes zu uns als seinen Ebenbildern hat eine ewige Quelle, nämlich die Liebe zwischen dem Vater, seinem ewigen Ebenbild (Sohn) und dem Heiligen Geist. Anders gesagt: Gott will mit uns eine Beziehung der Liebe verwirklichen, die so ähnlich sein soll wie seine ewige Liebe.
Das Leid als mögliches Risiko der Liebe Gottes
Es lässt sich nun argumentieren, dass physische Übel (Leid in der Natur und verursacht durch die Natur) und moralische Übel (Leid verursacht durch Menschen) ihren Grund in der Freiheit haben, mit der Gott die Schöpfung und vor allem die Menschen in Liebe begabt hat.
- Weil die Liebe Gottes heilig und vollkommen ist, kann sie sich nicht mit Gewalt, Manipulation oder Zwang durchsetzen. Vielmehr setzt sie den Menschen frei, damit der aus freien Stücken Gott lieben und gegenüber ihm handeln kann.
- Die Liebe Gottes schenkt Raum und Zeit (1Kor 13,4-8), damit die Menschen zu einer Beziehung der Liebe finden und darin wachsen können. Gott will mit den Menschen eine echte Heilsgeschichte durchschreiten, die man als das Abenteuer seiner Liebe bezeichnen kann.
- Gott nimmt die einmal gegebene Freiheit nicht zurück. Dies gilt auch dann, wenn der Mensch sie gebraucht zum Gegenteil frei geschenkter Liebe, nämlich zur Sünde. Gott bleibt seiner Selbstbestimmung zur Gemeinschaft der Liebe treu.
- Um seiner Liebe willen geht Gott das Risiko ein, dass die Freiheit der Schöpfung und besonders der Menschen in einer Weise vollzogen wird, dass dabei Leiden und Übel verursacht werden.
- Gott kann physische und moralische Übel nicht allmächtig verhindern, weil er damit der Schöpfung und den Menschen die ihnen geschenkte Freiheit wieder nehmen würde.
Ist mit dieser Argumentation das Widerspruchsproblem gelöst? Naja, einerseits schon, denn mit der Liebe Gottes lässt sich ein gewichtiger Grund dafür angeben, dass Gott die Welt nicht in einem vollendeten Zustand erschaffen hat, in dem die Möglichkeit des Leidens für immer ausgeschlossen ist (Offb 21,1-5). Dieser Ausschluss soll das Ergebnis einer gemeinsamen Liebesgeschichte sein. Weder verhindert, noch beseitigt Gott das Leid einfach in seiner Geschichte mit den Menschen. Gottes Güte und Allmacht sind damit theodizeesensibel reinterpretiert. Andererseits stossen wir auf neue Fragen: dem eigentlichen Nerv der Theodizee.
Der eigentliche Nerv der Theodizee
- Lässt es sich rechtfertigen, dass Gott das Risiko unermesslichen Leides in der Welt und im Leben der Menschen eingegangen ist? Zugespitzt: Wie konnte Gott es wagen, Menschen aus Liebe zu erschaffen, die unsägliches Leid in die Welt bringen?
- Ist es nicht zynisch, die Freiheit der Liebe stärker zu gewichten als das Leiden? Konkret: Wäre es nicht moralisch einzufordern, die Freiheit des nationalsozialistischen Regimes allmächtig zu überschreiben angesichts der millionenfachen Opfer dieser diabolischen Freiheit?
- Müsste man einen Gott, der das Risiko des Weltabenteuers eingeht, nicht als leichtfertigen Spieler bezeichnen, der seinen Einsatz auf Kosten der Mensch bezahlt?
Hier gelangt eine trinitarische Theodizee der Liebe Gottes an ihre Grenzen. Ob ein Leben in Freiheit und Liebe den Preis des Leidens wert ist, das kann keine Theologie pauschal gegenüber den leidenden Menschen vertreten. Nur der oder die Leidende selbst kann solche Abwägungen vornehmen. Es ist aber die Aufgabe der Theologie, die Leidgeplagten in diesem schwerwiegenden Prozess zu begleiten. Sie tut das, indem sie die Geschichte der Taten Gottes so bezeugt und lehrt, dass das Ja zum dreieinen Gott und zu seinem Geschenk eines risikobehafteten Lebens plausibler wird als ein Nein. Daher nenne ich zum Abschluss meine zwei besten Gründe dafür, im Leid an Gott zu glauben.
4. Meine Zwei besten Gründe, im Leid an Gott zu glauben
Der mitleidende Gott ist kein leichtfertiger Risikogeselle
Bereits das Alte Testament bezeugt eindrücklich, wie Gott am Leid der Menschen leidet, selbst dann, wenn das Elend der Menschen sündhaft selbstverschuldet ist: Gott ist betrübt, sein Herz bricht vor Jammer und brennt in ihm. Unüberbietbar ist, wie Gott sich dem Bösen, den Übeln und Leiden der Welt am Kreuz auf Golgatha aussetzt. Der Höhepunkt des Leidens liegt in der Erfahrung der Gottverlassenheit im Tod (Mt 27,46). In Christus haben es die Menschen mit einem Gott zu tun, der mit ihnen leidet, und im Heiligen Geist haben sie es mit einem Gott zu tun, der mit ihnen stöhnt und seufzt (Hebr 4,14ff., 5,7ff., 7,25; Röm 8,26f.).
Gott hat die Welt nicht wie ein abgezockter, leichtfertiger Risikospieler erschaffen. Vielmehr war er von Anfang an bereit, den möglichen Preis für die Freiheit, die er dem Menschen in Liebe zugeeignet hat, zu zahlen. Dies ist die Botschaft von 1Petr 1,18-20. Golgatha ist der Beweis Gottes dafür, dass er die Risikofinanzierung seiner Liebe selbst abdeckt: Er hat sich selbst als Löse- und Preisgeld gegeben, hat alles geschenkt, was er kann (Röm 8,31-39). Und das geschlachtete Lamm auf dem Thron (Offb 5,6; 14,10; 15,3; 22,1-5) deutet geheimnisvoll an, wie sehr Gott sich die Leiden und Qualen der Welt zu eigen gemacht hat. Sie werden, so hat der Theologe Jürgen Moltmann einmal gesagt, zur ewigen Signatur seines Wesens.
Unter diesen Voraussetzungen steht Gott nicht länger auf der anderen Seite des Leides. Die Leidgeplagten entdecken, wie nah er ihnen ist. Das ist ein echter Perspektivenwechsel. Und ich meine: Wenn Gott die Leiden der Menschen teilt, dann kann er dafür nicht einfach angeklagt werden. Dann sollte er auch nicht einfach aus dem Leid heraus atheisiert werden. Denn der Gott im Leiden ist nun auch der, der mich aus dem Leiden herauszuführen vermag.
Die Allmacht der gekreuzigten Liebe kann was
Wer göttliche Güte und Allmacht dort sucht, wo Gott mit absoluter und nachweisbarer Souveränität die Welt lenkt, wird vermutlich nicht viel Eindeutiges finden. Vielleicht hat der Atheismus an der falschen Stelle gesucht und daher angesichts der leidvollen, hässlichen und schmerzlichen Facetten des Lebens Gott verabschiedet. Kreuz und Auferstehung Christi zeigen, wie die Allmacht Gottes sich nicht als unwiderstehliche Kraft souverän durchsetzt. Sie erreicht das versprochene Heilsziel, indem sie das ultimative Übel erleidet, den Tod. Sie wirkt in sich selbst zurücknehmender Niedrigkeit (Phil 2,5ff.) und ohnmächtiger Schwachheit (1Kor 1,25; 2Kor 12,9).
Nun könnte man atheistisch einwenden, was auch berühmte Theologen wie Karl Rahner fragen: Wenn es Gott genauso dreckig geht wie mir, dann nützt er mir gar nichts, um aus meinem Dreck herauszukommen. Ja, das würde stimmen, wenn Tod und Leiden das letzte Wort hätten. Haben sie aber nicht. Die Auferweckung Jesu Christi von den Toten ist der Beweis Gottes dafür, dass er selbst das schlimmste und übelste aller Leiden, die Gottverlassenheit im Tod, mit uns teilt, um es endgültig zu überwinden. Eine grössere Allmacht ist nicht denkbar als die der gekreuzigten Liebe Gottes (Röm 8,34).
Die Geschichte der Taten Gottes ist voll von lauter kleinen Auferweckungen. Brüder führen mit ihrem Bruder Böses im Schilde, aber Gott geht mit und macht was Gutes draus (1Mo 50,20). Gott, dem Töpfer, misslingt ein Gefäss, aber dann zeigt er seine wahre Kunst und formt etwas anderes, etwas Neues (Jer 18,4). Menschen gehen das Risiko echter Liebe ein, machen sich unglaublich verletzlich, werden verletzt und betrogen, aber dann geschieht das Wunder der Vergebung. Und eine Liebe wird vielleicht neu, anders, irgendwie tiefer als vorher. Solche biblischen und ausserbiblischen Geschichten können es plausibel machen, an Gott zu glauben – mitten im Leid.
In gewisser Weise teile ich die nüchterne Einschätzung vieler Atheisten: Die Welt ist unerlöst. Ich muss damit leben, dass Gott sich entschieden hat eine Welt zu erschaffen, in der es keine Sicherheiten gibt, in der auch mich und meine Lieben jedwedes Leid zu jeglicher Zeit an allen Orten treffen kann. Das kann mir echten atheistischen Schwindel verpassen. Aber ich habe einen richtig guten Grund, einen felsigen Stein des Anstosses wider den Atheismus: Es ist der weggerollte Stein des Grabes Christi. Es ist die Tatsache, dass Gott seinen Sohn von den Toten auferweckt hat.
Sehr treffende und übersichtliche Darstellung des kaum zu fassenden Thema des Leides. Hier werde ich mir sicherlich den einen oder anderen Ansatz für meine Predigten entnehmen, vielen Dank, Andreas!
Den Artikel von Joachim Kahl finde ich interessant und ehrlich, allerdings muss ich als Physiker dem einen Standbein seiner Argumentation ganz klar widersprechen, wenn er sagt, dass es keinen absoluten, sondern nur relative Anfänge gäbe und die Welt daher keinen Schöpfer benötige. Das die Welt (womit er vermutlich eher den Kosmos meint) ewig und ohne Anfang und Ende ist, ist physikalisch gesehen nicht mehr haltbar.
Alles, was in der Physik über die Kosmologie bekannt ist, weißt darauf hin, dass es einen ABSOLUTEN Anfang des Universums gab, bei dem sowohl Raum und Zeit erst „entstanden“ sind. Selbst wenn man von einer oszillierenden Natur des Universums ausgehen würde, also einem Universum, was sich immer wieder aufbläht und in sich zusammenfällt, benötigt man zur Erklärung der beobachteten Universums-Eigenschaften, wie wir sie heute kennen, einen absoluten Anfang (das sog. Borde-Guth-Vilenkin Theorem (BGV-Theorem).
Dieser absolute Anfang kann als Basis für das sog. Kalam-kosmologische Argument für die Existenz Gottes entfaltet werden, welches intensiv vom amerikansichen Theologen und Philosophen William Lane Craig diskutiert wird.
Insgesamt eine sehr gute Ausgabe der Communicatio!!
Marcel, das sind erhellende und kompetente Hinweise aus der Physik. Danke, dass Du Dich so zu Wort meldest. Damit wird das Kommunikationsfeld zwischen Philosophie und Theologie nun naturwissenschaftlich erweitert – so soll es sein in einer kommunikativen Theologie!
Und Du hast das richtig gespürt: Das Thema „Leid“ mal an einem Punkt – atheistisches Widerspruchsproblem – so überblicksartig anzupacken, war auch für mich nicht einfach. Vermutlich auch deshalb, weil ich immer konkrete Menschen vor Augen und im Herzen habe, die im Leid stehen, mit Leiden leben müssen. Lass uns nicht aufhören zu fragen, was das Evangelium in solchen Situationen oder Lebensphasen sein kann.
Auch wenn unser Universum nicht unendlich ist, kann es dennoch in ein himmlisches unendliches Universum eingebettet sein und der Weg unseres Universums ist dann folglich ein transzendenter Weg der geistigen Umkehr und der Erneuerung, wie Gott es biblisch ja versprochen hat. Wenn die neue Erde kommt leuchtet schon das göttliche Licht und nicht mehr die uns bekannte Sonne. Diese Transzendierung zum himmlischen hin ist der Weg, den Christus mit den Auferstandenen geht. Das ist Evangelien Lehre und somit Glaubensbestand. Für diese Glaubenslehre sind nicht wir Menschen verantwortlich sondern der Initiator der Evangelien!
Das Leiden hat laut biblischer Lehre erst angefangen, als Adam und Eva nicht auf Gott hörten sondern auf den Verführer!