Gemeinde im Spannungsfeld: Wie viel Differenz ist gesund?
In einer Zeit, in der theologische Meinungen in Gemeinden oft stark auseinanderdriften, steht eine freikirchliche Gemeinde vor der Herausforderung, Einheit zu wahren. Der Fall von Angelika, die aufgrund eines Skiunfalls mit chronischen Schmerzen kämpft, zeigt, wie wichtig ein heilsamer Umgang mit theologischen Fragen ist. Peter Schneebergers Artikel beleuchtet, wie eine positive Haltung zu verschiedenen Meinungen gefördert werden und die Mündigkeit der Gemeindeglieder gestärkt werden kann.
Angelikas Kampf: Schmerzen oder Heilung
Angelika befindet sich gerade in einer schwierigen Lebensphase. Ein Skiunfall hat dazu geführt, dass sie chronische Schmerzen in den Schultern hat. Oft fühlt sie sich niedergeschlagen und muss sich zur Arbeit schleppen. In der Gemeinde hat man für sie gebetet, was ihr Trost spendet, auch wenn die Schmerzen geblieben sind. Ihr wurde geraten, das Leiden als Teil einer zerbrochenen Schöpfung anzunehmen. Nun wurde sie von einem Hauskreis zu einem Heilungsabend eingeladen, bei dem ihr zugesichert wurde, dass sie in Christus bereits geheilt sei und die Heilung einfach annehmen solle – dann würden die Schmerzen verschwinden. Doch diese blieben. Jetzt plagt sie zusätzlich das schlechte Gewissen, nicht genug zu glauben, da die Hauskreisleiterin anmerkte, dass die Heilungskraft Jesu durch ihren Unglauben begrenzt sei. Mit diesem Ge-fühlsdurcheinander sucht sie Rat beim Jugendpastor.
Solche und ähnliche Situationen begegnen Jugendleiterinnen oder -leitern häufig. Im Bereich Krankheit, Gaben des Heiligen Geistes, Sexualethik, politische Ansichten oder anderem gehen die Meinungen in der Gemeinde oft diametral auseinander. Wie viel Differenz sollte eine Gemeinde aushalten? Wie kann die Einheit gewahrt werden? Dieser Artikel schlägt Wege vor, um einen konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen theologischen Meinungen zu finden.
«Im Bereich Krankheit, Gaben des Heiligen Geistes, Sexualethik, politische Ansichten oder anderem gehen die Meinungen in der Gemeinde oft diametral auseinander. Wie viel Differenz sollte eine Gemeinde aushalten? Wie kann die Einheit gewahrt werden?»
Peter Schneeberger, TSC-Dozent für Praktische Theologie
Glücklich über die Gemeinde
Jesus sagt in Matthäus 16,18: «Ich werde meine Gemeinde bauen!» Es ist sein Werk. Keller meint dazu: «Das Evangelium macht uns gleichzeitig demütig und selbstbewusst!» Christen sind Personen mit starken Überzeugungen, doch ohne die Verankerung in der Gnade Gottes können wir zu unangenehmen Rechthabern werden. Barnabas zeigt in Apostelgeschichte 11,23 Freude an dem, was in der Gemeinde geschieht, und sieht sich als Teil der Gemeinschaft, die Jesus geschenkt hat. In dieser Grundhaltung lebe ich und konzentriere mich auf das Erfreuliche.
In meiner Gemeindebautätigkeit hat mir ein vierfaches Raster geholfen, um die Fragen zu klären, wie das Gemeindeleben gestaltet werden soll und wie theologische Überzeugungen gewichtet werden können:
- 1. Wir sind den biblischen Ordnungen verpflichtet. Das ist vorrangig.
- 2. Wir respektieren die Geschichte der eigenen Gemeinde oder des Gemeindesverbandes.
- 3. Wir nehmen den Auftrag gegenüber kirchenfremden Menschen wahr: Sie sollen auf den Weg mit Jesus mitgenommen werden.
- 4. Wir schützen unsere Gemeinschaft.

Auf der Grundlage der biblischen Wahrheit bauen wir Gemeinde. Nur sind nicht alle Fragen von heute in der Bibel aufgenommen worden. Dann halte ich mich an das was Francis Schaeffer einmal gesagt hat: «Alles, was im Neuen Testament an Form nicht ausdrücklich befohlen wird, ist frei, unter der Leitung des Heiligen Geistes für die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort gestaltet zu werden.» Augustinus (354-430) wird mit den Worten zitiert: «Im Wesentlichen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem Liebe.» Auch wenn in Johannes 14,12 steht, dass wir noch grössere Dinge tun können als Jesus Christus, sollten wir uns daran erinnern: Christen sind nicht Christus, haben jedoch den gleichen Geist wie er. Doch welche Fragen sind wesentlich?
«Alles, was im Neuen Testament an Form nicht ausdrücklich befohlen wird, ist frei, unter der Leitung des Heiligen Geistes für die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort gestaltet zu werden.»
Francis Schaeffer, amerikanischer Theologe
Grenzen der Auslegung: Erkenntnis und Interpretation
Alle Fragen, die für unser Glaubensfundament entscheidend sind, müssen berücksichtigt werden. Diese sind beispielsweise in der Glaubensbasis der Schweizerischen Evangelischen Allianz festgehalten. Auch die zuvor erwähnten vier Verpflichtungen sind von wesentlicher Bedeutung. Hier möchte ich eine erste Bewertung abgeben: Inhalte von YouTube, Instagram oder ohne klare Quellen müssen gemäss der Glaubensbasis geprüft werden. Oft steht hinter Predigtinhalten weltweit ein ganz anderes christliches Menschenbild als das der Freikirchen in der Schweiz.
Meine Auslegung der Bibel repräsentiert nicht automatisch den Kurs der Gemeinde. Vielmehr sind wir als Deutungsgemeinschaft zusammengesetzt. Mir helfen in der Bibelauslegung kritischer Bibelstellen folgende Ansätze:
- Eher mehrdeutige Bibelstellen werden den klareren nachgeordnet. Das Eigentliche ist in den klaren Bibelstellen ausgesagt.
- Die Ersterwähnung gewisser theologischer Fragestellungen in der Bibel geben oft auch die Richtung der Auslegung an.
- Bibelverse sind immer im Kontext zu lesen und für die Auslegung einzuordnen.
- Die Bibel ist von Jesus her zu lesen.
- Neue Erkenntnisse in der Kirchengeschichte sind häufig nicht neu und somit ist die Ge-schichte der Auslegung relevant.
- Überspitzte theologische Aussagen sind selten richtig («Jesus hat Alle geheilt!» oder «Gott hat mir für die Gemeinde gesagt…»)
Der Weg zur theologischen Mündigkeit
Die Worte von Paulus in 1. Korinther 3,9 bieten ein hilfreiches Raster für die theologischen Mündigkeit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde sind gleichzeitig Gottes Ackerfeld und sein Bauwerk. Das eine ist ein Wert aus der Natur: Die Gemeinde entsteht und wächst je nach Umständen manchmal explosionsartig, während sie zu anderen Zeiten durch Nahrungsentzug gefährdet ist. Der andere Begriff mit dem Bau hat mit Plänen und Organisation zu tun. Beide Gegensätze gilt es im Gemeindebau auszuhalten. So ist eben auch die gute Nachricht von Jesus Christus: Gleichzeitig weit und tief. Kleine Anfänge und schlussendlich majestätischer König . Das Leiden aushaltend und allezeit überwindend. Als Christen leben wir in diesen Spannungsfeldern. Der Weg zur Mündigkeit hält diese Spannung aus und verbietet sich nur eines der gegensätzlichen Paare zu betonen.
Was bedeuten diese Ausführungen für Angelikas Fragen an ihren Jugendpastor? Angelika kann sich von Gott bedingungslos geliebt wissen, auch wenn die Schmerzen daran erinnern, dass ihr Körper nicht heil ist. Das Vertrauen in Gottes Heilungskraft kann eine spontane Heilung bewirken, muss es jedoch nicht. Als Betende glauben wir an Gottes Möglichkeiten, akzeptieren aber auch, dass er auf unseren Wunsch möglicherweise noch nicht mit «Ja» antwortet.

