Jugendkultur und theologische Bildung am tsc
Wie tickt die «Generation Worship», aus der die Studentinnen und Studenten von heute stammen? Und wie beeinflusst das die Art, wie am Theologischen Seminar St. Chrischona studiert, gelehrt und gelebt wird? Anlässlich der Mitgliederversammlung des Gnadauer Gemeinschaftsverbands im Februar 2020 hat Rektor Dr. Benedikt Walker über Grundsätze und Überzeugungen am tsc gesprochen.
Theologische Bildung ist auch Persönlichkeitsentwicklung
Am Theologischen Seminar St. Chrischona ist theologische Bildung mehr als Wissensvermittlung. Sie ist zu einem grossen Teil Persönlichkeitsentwicklung. Theologische Bildung am tsc erschliesst Welten und eröffnet neue Zugänge. Sie hört zu und will verstehen. Sie muss bereit sein, Erkenntnisse zu hinterfragen und im Leben zu reflektieren. Weil theologische Bildung mehr als Wissensvermittlung ist, sind Dozentinnen und Dozenten Lernbegleiter, Förderer, Ermöglicher, Unterstützer, Ratgeber und Vorbilder.
Die Studiengemeinschaft – die tsc-Community – ist ein wichtiges Lernfeld für die theologische Bildung. Am Theologischen Seminar St. Chrischona verstehen wir uns als eine Weg- und Lerngemeinschaft. Hier pflegen wir ein Klima des Lernens, der Ermutigung und des Ausprobierens. Wir richten Begegnungsräume ein für (informelle) Begegnungen. Wir geben Sicherheit mit Regeln und lassen Flexibilität zu. Wir fördern die Studierenden in ihrer geistlichen emotionalen Reife.
Warum wir theologische Bildung so betreiben und die Studiengemeinschaft so leben, das möchte ich im Folgenden ausführlicher erklären.
Wie tickt die Generation Worship?
Die Studierenden von heute ticken anders als ich als Student vor dreissig Jahren. In der empirica Jugendstudie 2018 haben Tobias Faix und Tobias Künkler die «Generation Worship» untersucht. Darin beschreiben sie, wie die Jugend heute eine «Wertesynthese» betreibt. Sie bringen Werte zusammen, die für meine Generation (geboren 1968) zumeist nicht miteinander vereinbar sind:
- Die junge Generation kennt keine «Logik des Entweder-Oders». Für sie gilt «sowohl als auch» – yes, we can. Nein ist kein kategorisches Nein, sondern ein: «So geht es zwar nicht, aber es gibt ja noch andere Lösungen.»
- Der jungen Generation ist sowohl Leistung als auch Entschleunigung wichtig. Meine Generation würde sagen, das ist ein Widerspruch. Die Jungen sagen: Wir wollen beides, sowohl als auch. Denn sie kennen die Burn-out-Thematik der heutigen Zeit.
- Die junge Generation will Sicherheit und Flexibilität. Sie will klare Regeln, bei deren Auslebung allerdings volle Flexibilität. Ein aktuelles Beispiel: In der Coronakrise wollen die Studierenden genau wissen, was sie dürfen – und gleichzeitig wollen sie wissen, wie sie mit diesen Regeln flexibel umgehen können.
- Die junge Generation ist hyperindividualisiert, gleichzeitig sind soziale Beziehungen sehr wichtig. Enge soziale Beziehungen sind ihnen wichtig, aber die Individualisierung hat darin Platz. Zum Beispiel in den intensiven kommunikativen Beziehungsnetzen: Da kann man sich ein- und ausklinken, wie man möchte. Darum funktioniert Instagram so gut.
Das sind Ergebnisse einer Jugendstudie. Natürlich findet man auch Jugendliche, die anders ticken. Jedoch decken sich diese Punkte mit meiner Wahrnehmung von den Studentinnen und Studenten von heute.
So nehme ich die Studierenden von heute wahr:
Unsere Studierenden sind zunächst einmal sehr lernwillig. Lernwilliger als meine Studierendengeneration vor dreissig Jahren. Die Lehrmethode muss sich an die Lernwilligkeit der Studierenden anpassen. Sie sehnen sich nach Gemeinschaft. Auch in Zeiten von Corona und Versammlungsverbot suchen sie nach Formen, Gemeinschaft leben zu können.
Sie betonen den «liebenden Gott». Der zornige Gott ist ihnen fremd. Glaubensfragen erwachsen aus diesem Verständnis: Gott ist doch ein liebender Gott, warum handelt er dann so? Die Studierenden haben Sehnsucht nach Vorbildern. Sie nehmen uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Vorbilder wahr und haben entsprechend hohe Erwartungen an uns. Sie bevorzugen offene Kommunikationssysteme – in denen sie sich einfach ein- und ausklinken können. Sie wünschen sich Partizipation, möchten integriert werden, teilhaben, verlangen auch nach Rückmeldungen. Das ist für sie Ausdruck von Wertschätzung. Und schliesslich hat das Erleben bei den Studierenden von heute einen hohen Stellenwert (Beispiel: Erlebnisgottesdienste).
Was bedeutet das für die theologische Bildung?
Für uns am Theologischen Seminar St. Chrischona heisst das: Theologische Bildung ist mehr ist als Wissensvermittlung. Theologische Bildung ist zu einem grossen Teil Persönlichkeitsentwicklung. So verstehen wir theologische Bildung am tsc:
- Theologische Bildung erschliesst Welten und eröffnet neue Zugänge. Unsere Studierenden erweitern ihren Horizont, erlangen neue Erkenntnisse durch Reflexionen und neue Zugänge zu Themen.
- Theologische Bildung ist ein Akt des Hörens. Ein Hören auf Gott und ein Hinhören auf die Mitmenschen. Ich höre zu und will verstehen. Dafür muss ich mich auf Gott und die Mitmenschen einlassen. Muss bereit sein zu hören und zu reflektieren. Einen anderen Sachverhalt, aber auch meine eigenen Erkenntnisse zu reflektieren und mich weiterzuentwickeln.
- Theologische Bildung ist Persönlichkeitsentwicklung. Auf der Suche, Gott zu verstehen, muss ich bereit sein, theologische Erkenntnisse zu hinterfragen. Sie auch im Leben zu reflektieren, nicht nur in der Theorie. Darum bin ich als Person herausgefordert, geistlich und emotional zu reifen.
Dozierende als Lernbegleiter
Dozentinnen und Dozenten sind Lernbegleiter, Förderer, Ermöglicher, Unterstützer, Ratgeber und Vorbilder. Hier kommt eine Erkenntnis aus der Erwachsenenbildung zur Geltung: Der Lernerfolg ist dann am grössten, wenn ich als Dozent meine Aufgabe als Lernbegleiter wahrnehme. Viele Dozentinnen und Dozenten sind natürlich auch ein wandelndes Lexikon – aber die Studierenden erwarten von ihnen darüber hinaus Authentizität, Glaubwürdigkeit, Partizipation und Feedback.
Community als Lernfeld
Die Community am tsc ist ein wichtiges Lernfeld für die theologische Bildung. Wir verstehen uns am tsc als eine Weg- und Lerngemeinschaft. Hier können sich die Studierenden engagieren und ausprobieren, erhalten Feedbacks von uns Lernbegleitern. Als Dozentinnen und Dozenten sind wir Teil der Community, das ist ausdrücklich erwünscht. Gemeinsam feiern wir die mittwöchlichen «Mittendrin»-Gottesdienste und gestalten Gebetsvormittage.
Wenn Studierende Fragen haben, kommen sie relativ unkompliziert mit uns Dozierenden ins Gespräch. Meine Tür steht immer offen. In monatlichen Klassensprechersitzungen sind wir nah an ihnen dran. Als Lernbegleiter will ich die Studierenden in ihrer Mündigkeit unterstützen.
Theologische Bildung ist mehr als Wissensvermittlung. Theologische Bildung ist zu einem grossen Teil Persönlichkeitsentwicklung.
Den Studierenden den Spiegel vorhalten
Das heisst auch: Den Studierenden den Spiegel vorhalten! Ich muss nicht alles gut finden, was ich an der Generation Worship heute beobachte. Als Lernbegleiter und Förderer ist es meine Aufgabe, die Studierenden auf Widersprüche oder Einseitigkeiten hinzuweisen, sie mit anderen Sichtweisen zu konfrontieren. Deshalb gehört es am tsc auch dazu, gerade nicht nur von Gott als dem liebenden Gott zu sprechen, sondern auch vom zornigen oder schweigenden Gott. Auch muss nicht unwidersprochen bleiben, dass für die junge Generation der «Worship» die Glaubensquelle Nr. 1 ist, und nicht etwa das Bibellesen oder die Predigt.
Am tsc lassen wir uns auf die heutige Jugendkultur ein, aber übernehmen sie nicht automatisch. Wir reiben uns an ihr. Wir spiegeln zurück, wie sie auf uns wirkt. Wir lernen voneinander – und korrigieren uns auch gegenseitig. Das empfinde ich als eine grosse Stärke unserer Community als Lernfeld.
4 Community-Grundsätze am tsc
- Wir pflegen ein Klima des Lernens, der Ermutigung und des Ausprobierens. Darin spiegelt sich unser Verständnis von theologischer Bildung. Die Studiengemeinschaft am tsc ist für die Studierenden wie ein geschützter Raum. Ein «Erprobungsraum», in dem man gemeinsam lernt, sich ermutigt und vieles ausprobieren kann. Fehler sind erlaubt. Wir geben einander Feedback und wollen uns verbessern. Und es ist wegen der Unterschiede von Schweizern und Deutschen ein hilfreiches kulturelles Lernfeld.
- Wir richten Begegnungsräume ein für (informelle) Begegnungen zwischen Studierenden, Dozierenden, Mitarbeitenden. Wenn Gemeinschaft, Begegnungen und Lernfelder wichtig sind, dann brauchen wir auch geeignete Begegnungsräume, die ein ungezwungenes Hereinkommen und Hinausgehen ermöglichen. Wo man sich über den Weg stolpert. Das lässt eine gewisse Flexibilität und Unverbindlichkeit zu. Genau dies ermöglicht neue Begegnungen.
- Wir lassen Flexibilität zu und geben Sicherheit. Für die Studierenden ist wichtig, dass Erwartungen aneinander thematisiert werden. Sie wollen Klarheit darüber, was von ihnen erwartet wird und was passiert, wenn sie etwas nicht machen. Und sie wollen die Ausnahmen der Regeln genau kennen. Sie wollen diese Klarheit, damit sie Flexibilität leben können. Hier ist eine klare und gründlich geregelte Kommunikation innerhalb der Studiengemeinschaft wichtig. Die E-Learning-Plattform «Moodle» spielt am tsc eine zentrale Rolle, die jeder Student und jede Studentin am tsc nutzt. Darin gibt es Bereiche für die verbindliche Kommunikation und jene für den Small Talk.
- Wir fördern die Studierenden in ihrer geistlich emotionalen Reife. Das ist ein wichtiger Baustein für die Persönlichkeitsentwicklung. Wir bieten neben dem Unterricht zusätzliche Kurse an zum Thema «geistlich emotional reifen». Wir sind davon überzeugt, dass wir damit die theologische Bildung fördern, wenn nicht sogar ermöglichen.
Am tsc lassen wir uns auf die heutige Jugendkultur ein, aber übernehmen sie nicht automatisch. Wir reiben uns an ihr. Wir spiegeln zurück, wie sie auf uns wirkt. Wir lernen voneinander – und korrigieren uns auch gegenseitig. Das empfinde ich als eine grosse Stärke unserer Community als Lernfeld.