Früchte tragen bis ins hohe Alter
Was lehrt uns die Bibel, um auch im Alter noch Früchte zu tragen? Darüber schreibt Dr. Michael Widmer, TSC-Dozent für Bibelwissenschaften, in seinem Beitrag für das COMMUNICATIO-Magazin 2024. Er ist am Anfang des Lukas-Evangeliums auf vier betagte Personen gestossen, von denen wir viel lernen können.
Wie gelingt ein Leben bis zum Schluss?
Unter den vielen Predigten, die ich gehört habe, ist mir eine besonders in Erinnerung geblieben. Sie trug den Titel «Finishing well» und thematisierte die Frage: Wie gelingt ein Leben bis zum Schluss?
Eine Vielzahl biblischer Hauptfiguren, darunter Abraham, Mose, David, Salomo und Hiskia, begannen ihren Weg mit Gott im Gehorsam und Vertrauen. Mit zunehmendem Alter erlagen sie jedoch Versuchungen:
- Aus Angst und mangelndem Gottvertrauen übergab Abraham seine Frau Sarah an den Pharao sowie später an König Abimelech (1Mo 13; 21).
- Gegen Ende der Wüstenzeit verlor Mose die Geduld mit dem murrenden Volk und zeigte Anzeichen von unbeherrschtem Kleinglauben (4Mo 20,11-12; 5Mo 1,37).
- David beging Ehebruch, nachdem ihm von Gott relativer Frieden im Land gewährt worden war (2Sam 11).
- Salomo, der als weisester König Israels in die Geschichte einging, führte durch die Aufnahme zahlreicher ausländischer Frauen fremde Götter nach Israel ein, was schlussendlich zur Spaltung des Königreichs und zur Verbannung Israels führte (1Kön 11).
- Hiskia, der anfänglich wie kein anderer König Gott vertraute, zeigte sich gegen Ende seines Lebens unbekümmert um die düstere Zukunft seines Volkes, da er davon ausging, dass diese nach seinem Tod für ihn nicht mehr von Belang sein würde (2Kön 20,16–19).
Offensichtlich ist der Glaube in jüngeren Jahren keine Garantie dafür, dass er im Alter automatisch durchträgt. Ebenso ist nicht gewährleistet, dass man mit zunehmenden Jahren auch an Weisheit gewinnt. Die Bibel kennt die Gefahr des zunehmenden Zynismus im Alter (Pred 12). Aber auch die Gefahr, dass Macht und Lebenskomfort neue Versuchungen und Götzendienst hervorbringen können. Paulus thematisiert die Herausforderung mit dem Bild, den eigenen «Lebensmarathon» zu einem guten Abschluss zu bringen (1Kor 9,24–27; Phil 3,14; vgl. Hebr 3–4). Welche Lehren können aus der Bibel hinsichtlich eines gottgefälligen Lebens, der Würde, Chancen, Schwierigkeiten und Gefahren des Alters gezogen werden? Wie können wir selbst im Alter noch Früchte tragen?
«Vor ergrautem Haar sollst du aufstehen, und einen Alten sollst du ehren, und du sollst dich fürchten vor deinem Gott.»
3. Mose 19,32
Was aber wenn die betagte Person eigenwillig, schwatzhaft oder zynisch ist? Einerseits wird graues Haar in Ehre gehalten («eine prächtige Krone», Spr 16,31), andererseits zeigt die Bibel anhand zahlreicher Beispiele, dass das Alter nicht vor Torheit schützt. Im Folgenden versuche ich verschiedene Aspekte des Alters und Alterns in der Bibel zu beleuchten.
Das «biblische Alter»: Von Metuschelach zu Mose
Laut der sogenannten Urgeschichte (1Mo 1–11) erreichten die Menschen vor der Sintflut eine Lebensspanne von mehreren hundert Jahren. Als ältester Mensch einer vorsintflutlichen Generation wird in der Bibel Metuschelach mit einem Alter von 969 Jahren genannt (1Mo 5,27). Henoch, der Jüngste im Geschlechtsregister der Urväter, wurde auf geheimnisvolle Art mit 365 Jahren entrückt, da er mit Gott wandelte (1Mo 5,5.23). Wie lassen sich diese ausserordentlichen Altersangaben verstehen? Will die Bibel lediglich einen Unterschied zwischen der Urzeit und der nachflutlichen Zeit machen? Waren die Lebensbedingungen damals anders? War vielleicht Gottes Segenskraft in der Urzeit noch ungebrochen wirksam (1Mo 5,2), oder lag ein anderes Zeitverständnis zugrunde? Viele Fragen bleiben offen und können wohl nicht definitiv geklärt werden.
Es ist jedoch interessant, dass auch mesopotamische Schriften, insbesondere die sumerische Königsliste (ca. 2000 v.Chr.) belegen, dass vor der Flut die Lebensspanne der Menschen viel länger war (im Kontrast zu 1. Mose 5, sind die zehn sumerischen Könige mit noch viel höherem Alter beziffert. Der erste König regierte 28800 Jahre!). Obschon Noah auch nach der Sintflut noch 350 Jahre lebte und somit ein Gesamtalter von 950 Jahren erreichte, sinkt das menschliche Alter nach der Flut kontinuierlich auf 120 Jahre. In 1. Mose 6 lesen wir:
«Als sich aber die Menschen auf der Erde zu mehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren, und sie nahmen sich alle, die ihnen gefielen, zu Frauen. Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht auf immer im Menschen bleiben, weil auch er Fleisch ist. Seine Lebenszeit soll hundertzwanzig Jahre sein.»
1. Mose 6, 1–3
Diese Verse werfen neue rätselhafte Fragen hinsichtlich der Urzeit auf, auf die wir in diesem Artikel nicht eingehen können. Für unsere Betrachtung ist jedoch wichtig, dass die Bindungen zwischen den Gottessöhnen und Menschentöchter JHWH dem Schöpfer missfiel, was eine Reduktion der menschlichen Lebenszeit auf 120 Jahre zur Folge hatte. Obschon ein solches Alter im Zeitalter der modernen Medizin in vorstellbare Nähe rückt, erreichte wohl zu biblischen Zeiten kaum jemand ein solches Alter. Nur von Mose wird gesagt, dass er 120 Jahre alt wurde (5Mo 31,2; 34,7).
In bekannten Worten beschreibt Mose in seinem Psalm 90, dass das menschliche Leben 70 und wenn es hochkommt, 80 Jahre währt. Auch diese Altersangaben entsprechen wohl in den wenigsten Fällen den damaligen Erfahrungen. Die Lebenserwartung im Alten Orient dürfte durchschnittlich eher zwischen 40 und 50 Jahren gelegen haben. Das Leben der Menschen im alten Orient war von zahlreichen Herausforderungen geprägt, darunter Kriege, Krankheiten, Hungersnöte und eine hohe Kindersterblichkeit.
«Als ältester Mensch einer vorsintflutlichen Generation wird in der Bibel Metuschelach mit einem Alter von 969 Jahren genannt. Henoch, der Jüngste im Geschlechtsregister der Urväter, wurde auf geheimnisvolle Art mit 365 Jahren entrückt, da er mit Gott wandelte. Wie lassen sich diese ausserordentlichen Altersangaben verstehen?»
Dr. Michael Widmer, TSC-Dozent für Bibelwissenschaften
Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens
Mose greift in Psalm 90 die Bildsprache von 1. Mose 1–3 auf. Der Mensch wurde aus Staub erschaffen und wird nach Ablauf einer bestimmten Zeit wiederum zu Staub zerfallen. Das Leben wird mit der Kurzlebigkeit des Grases verglichen, welches am Morgen aufblüht und bis zum Abend welkt und verdorrt (Ps 90,5–6). Während vierzig Jahren in der Wüste hatte Mose dieses Naturphänomen ständig vor Augen und wurde sich dadurch wahrscheinlich der Vergänglichkeit des Lebens sehr bewusst. Im Kontrast zur Ewigkeit Gottes erscheint das menschliche Leben als flüchtiger Augenblick. Das Leben scheint dem Psalmisten wie vergebliche Mühe (Ps 90,4.10).
Psalm 90 wird manchmal mit den berühmten Worten des Predigers verglichen: «alles ist nichtig und ein Greifen nach Wind» (Pred 1,14). Der Psalm endet jedoch nicht in einem nihilistischen Weltbild. Mose erkennt die Ursache für all die Mühsal in der Sünde.
«Du hast unsere Sünden vor dich gestellt, unsere verborgene Schuld ins Licht deines Angesichts. All unsere Tage gehen dahin unter deinem Zorn, unsere Jahre beenden wir wie einen Seufzer. … Wer erkennt die Gewalt deines Zorns und deinen Grimm, wie es die Furcht vor dir verlangt?»
Psalm 90, 8–11
Die Sündhaftigkeit des Menschen provoziert den Zorn Gottes. Mose mahnt, ein Leben in Gottesfurcht zu führen und die Tage zu zählen, um ein weises Herz zu erlangen (Ps 90,11–12). Es war auch die vollständige Bosheit der Menschheit, die schliesslich zu Gottes vernichtendem Gericht führte (1Mo 6,5–13). Obschon die menschliche Lebensspanne nach der Flut drastisch verkürzt wurde, ist es aufschlussreich zu lesen, dass der Mensch von Anfang an als vergängliches Geschöpf geschaffen wurde. Die Lebensdauer war bereits von Anbeginn begrenzt, da der Mensch aus vergänglichem Fleisch erschaffen wurde. Auch Adam und Eva waren nicht mit unvergänglichen Leibern ausgestattet. Der Zugriff zum Baum des Lebens war die Voraussetzung für das ewige Leben (1Mo 3,22). Es ist der Geist Gottes, der über Leben und Tod bestimmt (1Mo 6,3; Ps 104,29–30). Es ist bemerkenswert, dass im Alten Testament nur wenige Aussagen über die Hoffnung auf ein ewiges Leben zu finden sind. Der Idealfall war, dass ein alter Mensch lebenssatt nach einem erfüllten Leben sterben durfte.
Alt und lebenssatt sterben
Von Abraham, Isaak und Hiob heisst es, dass sie in gesegnetem Alter, lebenssatt («an Tagen satt») verschieden, bevor sie mit ihren Vorfahren vereint wurden (1Mo 25,8; 35,29; Hiob 42,16–17). Der Begriff «lebenssatt» impliziert, dass es auch ein zufriedenes «Genug» gibt. Im Idealfall bedeutet «lebenssatt sterben», dass man Kinder und Enkel bis in die dritte oder sogar vierte Generation erleben durfte (1Mo 50,23). Der Prophet Jesaja beschreibt die ideale Lebensaussicht mit folgenden prophetischen Worten:
«Denn seht, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, und dessen, was früher war, wird nicht mehr gedacht werden … Denn seht, ich schaffe Jerusalem als Jubel … Und Weinen und Schreien wird in ihr nicht mehr zu hören sein. Dort wird es keinen Säugling mehr geben, der nur wenige Tage lebt, und keinen Greis, der sein Leben nicht vollendet, denn ein junger Mann wird sein, wer mit hundert Jahren stirbt, und wer hundert Jahre nicht erreicht, gilt als mit dem Fluch belegt.»
Jesaja 65, 7–20
Der Prophet sieht eine Zukunft, in der die Gefahr eines Frühtodes bei Kleinkindern gebannt sein wird. Die Lebenserwartung wird sich derart verlängern, dass Hundertjährige als junge Menschen betrachtet werden. Niemand stirbt zu früh, nicht der Säugling und nicht der alte Mensch. Das Höchstalter des Greises wird nicht angegeben, aber dafür wird beschrieben, wie ein gesegnetes Leben aussehen sollte. Der Prophet thematisiert demnach nicht ein ewiges Leben, sondern ein aussergewöhnlich langes und erfülltes Leben, eine Ausdehnung des Lebens (Liess, S. 54).
«Und sie werden Häuser bauen und darin wohnen und Weinberge pflanzen und deren Früchte essen. Sie werden nicht bauen, damit ein anderer wohnt, sie werden nicht pflanzen, damit ein anderer isst, denn das Alter meines Volks wird sein wie das Alter des Baums …»
Jesaja 65, 21–22
Israels Klagepsalmen bezeugen jedoch, dass der Prophet hier eine Hoffnung aufzeigt, die noch nicht der harschen Realität des Lebens entspricht. Das Leben war von Gebrechlichkeit, Krieg und Sünde bedroht. Als König Hiskia mit seiner tödlichen Krankheit konfrontiert wurde, klagt er: «Denn nicht die Totenwelt (scheol) preist dich, nicht der Tod lobt dich, auf deine Treue hoffen nicht die, die hinabsteigen in die Grube» (Jes 38,18–19).
«Es ist bemerkenswert, dass im Alten Testament nur wenige Aussagen über die Hoffnung auf ein ewiges Leben zu finden sind. Der Idealfall war, dass ein alter Mensch lebenssatt nach einem erfüllten Leben sterben durfte.»
Dr. Michael Widmer, TSC-Dozent für Bibelwissenschaften
Noch kein etablierter Auferstehungsglaube im Alten Testament
In Psalm 30 hadert David mit Gott: «Was nützt dir mein Blut, wenn ich ins Grab hinabfahr? Kann denn Staub dich preisen, deine Treue verkünden?» (Ps 30,10). In Israels Verständnis war Scheol ein Ort, wo sich die Toten aufhalten, in dem Dunkelheit herrscht und von dem es kein Zurück gibt. Eine Beziehung zwischen Menschen und Gott ist nicht mehr möglich (Ps 6,6; Jes 26,14). In dieses Niemandsland gelangen sowohl Personen, die vorzeitig aus dem Leben geschieden sind, als auch solche, die ein langes frommes Leben geführt haben (vgl. 1Sam 28).
Mit wohl zunehmender Beobachtung, dass auch gottesfürchtige Israeliten unter Verfolgung oder Krankheit frühzeitig ihren Tod fanden, geriet diese Auffassung vom Scheol in Konflikt mit dem Glauben an einen barmherzigen, gerechten und allmächtigen Gott. Bereits im Alten Testament erscheint an einigen Stellen die Hoffnung, dass sich Gottes Königtum bis ins Totenreich erstreckt (vgl. Ps 16,10; 22,30; Dan 12,2). Es waren vermutlich erst die grausamen makkabäischen Märtyrertode unter Antiochus, welche die Hoffnung auf eine leibliche Auferweckung von den Toten vorantrieben und festigten (2Makk 7).
Diese Auferstehungshoffnung hat sich letztendlich in der leiblichen Auferstehung Jesu definitiv als wahr erwiesen. Paulus spricht von der endgültigen Entmachtung des Todes. In seiner Verkündigung bezeichnete Paulus den Auferstandenen als den «Erstling der Entschlafenen», der von den Toten auferweckt worden war (1Kor 15,20). Christus ist der Erstgeborene unter vielen Glaubensgeschwister (Röm 8,29). Diejenigen, die an den gekreuzigten und auferstandenen Messias glauben, erhalten Anteil an seinem unzerstörbaren ewigen Leben (Joh 11,25; 1Kor 15,23).
Im Hebräerbrief findet sich die Aussage, dass die Teilhabe an Christus davon abhängig ist, ob der Glaube bis ans Ende fest bewahrt wird. Der Verfasser des Briefs warnt vor den Konsequenzen von Unglauben und Ungehorsam, welche nicht nur das Heil der rebellierenden Wüstengeneration unter Moses Leitung bedrohten, sondern auch das der christlichen Gemeinde (Heb 3,7–19). Wie zu Beginn des Artikels thematisiert wurde, ist der Glaube in jungen Jahren keine Garantie dafür, dass er im Alter automatisch fortbesteht. Ebenso wenig lässt sich mit Sicherheit sagen, dass man mit zunehmenden Jahren an Weisheit gewinnt.
Mose bittet nicht um ein längeres Leben, sondern darum, dass Gott uns lehrt zu bedenken, dass unsere Tage gezählt sind damit wir ein weises Herz erlangen (Ps 90,12). Dies gilt auch im Hinblick auf die Frage, welche Aspekte im Leben von wirklicher Bedeutung sind.
Alter schützt vor Torheit nicht
Obschon ältere Menschen in der biblischen Gesellschaft oft besonders wertgeschätzt wurden aufgrund ihres religiösen Wissens und ihrer Lebenserfahrungen (Spr 20,29), haben wir gesehen, dass Weisheit nicht automatisch mit dem Alter einhergeht. Der noch junge Elihu ist sich dessen bewusst, als er Hiob und seine drei «Freunde» mit folgenden Worten herausfordert.
«… Ich bin der Jüngste an Jahren, und ihr seid Greise. Darum hatte ich Angst … euch mein Wissen zu verkünden. Ich sagte (mir): Mag (erst) das Alter reden, soll die Menge der Jahre Weisheit erkennen lassen! Jedoch – es ist der Geist im Menschen und der Atem des Allmächtigen, der sie verständig werden lässt. Nicht (nur) die Betagten sind die Weisen, noch verstehen (stets) die Alten, was recht ist.»
Hiob 32, 6–9
Schlussendlich sind es Gottes Geist und Gottesfurcht, die Einsicht und Weisheit schenken, nicht allein das Alter (Hiob 28,28; Spr 1,7; Pred 12,12–13; Jak 1,5). Der Weisheitslehrer Jesus Sirach weiss von der Gefahr, dass ältere Menschen dazu neigen die Jungen zu belehren und mit langen Reden zu langweilen (Pyschny, S. 65). Zwar steht es den Älteren zu, ihre Lebenserfahrungen auch an Jüngere weiterzugeben. Wesentlich scheint jedoch der geeignete Zeitpunkt zu sein (vgl. Spr 10,14).
«Der du zu den Älteren zählst, ergreife das Wort, rede mit Bedacht, denn es steht dir zu; aber hindere die Spielleute nicht. Und wenn man lauscht, so schwatz nicht dazwischen und spare dir deine Weisheit für andere Zeiten.»
Sirach 32, 4–6
Wie der Theologe Otto Kaiser anmerkt, ist es wichtig, «der Situation der Jüngeren Rechnung zu tragen und sie nicht zu zwingen, Geschichten und Ratschläge zu hören, die derzeit nicht opportun sind» (Kaiser, S. 39). Des Weiteren sollen die älteren Generationen den Jungen bei ihren Freuden nicht im Weg stehen. Im Gegenteil, die älteren Generationen sollen bei Festivitäten mit Gesang mitfeiern (Sir 35,5–8, Septuaginta). «Es ist gut den HERRN zu preisen» und dem Höchsten zu singen.
«Gepflanzt im Haus des HERRN, blühen sie auf in den Vorhöfen unseres Gottes. Noch im Alter tragen sie Frucht, bleiben saftig und frisch, um kundzutun: Gerecht ist der HERR, mein Fels, und an ihm ist kein Unrecht.»
Psalm 92, 14–16
«Mose bittet nicht um ein längeres Leben, sondern darum, dass Gott uns lehrt zu bedenken, dass unsere Tage gezählt sind, damit wir ein weises Herz
erlangen.»
Dr. Michael Widmer, TSC-Dozent für Bibelwissenschaften
«Gepflanzt im Haus des HERRN»: Auch im Alter noch Früchte tragen
Lukas berichtet zu Beginn seines Evangeliums von vier betagten frommen Menschen, die in mancher Hinsicht als konkrete Beispiele für die Gerechten in Psalm 92 bezeichnet werden könnten (Cramer, S. 125):
- Der Priester Zacharias und seine Ehefrau Elisabeth «waren gerecht vor Gott» und führten ein toratreues Leben (Lk 1,6).
- Auch Simeon wird als gerecht und gottesfürchtig beschrieben (Lk 2,25).
- Schliesslich ist da noch die hochbetagte Hanna. Ihre Frömmigkeit zeigt sich, wie auch bei den übrigen drei Personen, in ihrer Nähe zum Jerusalemer Tempel (Lk 1,46; 67; 2,28).
Obschon alle vier Personen bereits in die Jahre gekommen sind, wird lediglich bei Hanna das exakte Alter erwähnt, welches 84 Jahre beträgt. Dies ist für damalige Verhältnisse besonders alt (Lk 2,37). Hanna ist eine Prophetin, die seit ihrer frühen Witwenschaft Tag und Nacht dem Herrn mit Fasten und Beten im Tempel dient, welches Ausdruck besonderer Frömmigkeit war (vgl. Mt 6,16–18). Noch in hohem Alter ist sie geistig frisch geblieben. Obschon Simeon nicht explizit als Prophet bezeichnet wird, heisst es, dass der Heilige Geist auf ihm ruhte und ihm die Gewissheit vermittelte, nicht zu sterben, bevor er den Gesalbten des Herrn gesehen hat. Von Gottes Geist in den Tempel getrieben, begrüsst er den «Messias des Herrn» (Lk 2,26). Bei der Begegnung mit dem Jesuskind drücken Simeon und Hanna ihre Freude in spontanem Lobpreis aus. Geleitet durch die Schrift, erkennt Simeon Jesus als Erlöser und als Licht zur Erleuchtung der Heiden (Lk 2,30–32; vgl. Jes 42,6; 49,6). Die Begegnung mit dem Jesuskind markiert Simeons Lebensziel. Wie zuvor Zacharias, der vom Heiligen Geist erfüllt Gott lobt und sein Heil verkündet, so bricht Simeon, vom Geist geleitet, in prophetischen Lobpreis aus (Lk 1,67–79; 2,27–32).
«Alter schützt weder vor Torheit noch vor Zynismus und Abfall vom Glauben. Die Bibel zeigt uns aber auch Menschen, die bis ins hohe Alter geistliche Frucht tragen, obwohl ihr Leben von schwierigen Umständen geprägt war.»
Dr. Michael Widmer, TSC-Dozent für Bibelwissenschaften
Welche Impulse lassen sich aus diesen biblischen Betrachtungen für das Glaubensleben im Alter ableiten?
1. Lebendige Gottesbeziehung erneuert den inneren Menschen
Wie sich gezeigt hat, schützt Alter weder vor Torheit noch vor Zynismus und Abfall vom Glauben. Die Bibel zeigt uns aber auch Menschen, die bis ins hohe Alter geistliche Frucht tragen, obwohl ihr Leben von schwierigen Umständen geprägt war: Kinderlosigkeit bis ins hohe Alter, römische Unterdrückung, jahrzehntelanges Warten in ärmlichen Witwenverhältnissen. Was hält den Glauben von Zacharias, Elisabeth, Simeon und Hanna lebendig und geisterfüllt? Wir lesen, dass ihre Frömmigkeit in der Tora verankert und vom Lobpreis geprägt war. Sie beteiligten sich am Gottesdienst und lebten in der Erwartung, dass Gott durch seinen Gesalbten wirkt. Sobald der richtige Zeitpunkt gekommen war, erkannten Simeon und Hanna Gottes neues Handeln und verkündigen ihren biblischen Glauben «zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten» (Lk 2,38).
Der US-amerikanische Pastor Timothy Keller erläuterte in einem Kommentar zu Psalm 92, wie der Glaube auch im Alter frisch und lebendig bleiben kann:
«Nur Gebet und Gottesdienst retten uns vor der Erschöpfung und dem Burn-out, in die wir geraten, wenn wir uns unsere Anerkennung selbst erarbeiten wollen. Wenn wir dagegen in der Gemeinschaft mit Gott ‹wurzeln› (V. 14), können Kraft und Frische im Alter sogar noch zunehmen. Das meint nicht die naive Annahme einer ewigen geistlichen Jugend. Es meint eine geistliche Widerstandskraft, die nur aus jahrelangem vertrauensvollem Beten erwächst. Es meint eine Weisheit, die sich aus einem reichen Schatz an Erinnerungen speist, schmerzhaften ebenso wie beglückenden. ‹Wenn auch unser äusserer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert› (2 Kor 4,16).»
Timothy Keller
2. Bereit zum Zeugendienst und Lobpreis
Lobpreis ist auch Verkündigung (vgl. Ps 67). Der Lobpreis der vier Betagten – Zacharias und Elisabeth, Simeon, Hanna – verkündete die Gnade und Gerechtigkeit Gottes sowie seine Heilsabsichten in Jesus Christus. Der verkündigende Lobpreis soll gemäss der Schrift täglich («morgens» und «abends») und ein Leben lang erfolgen, wobei er bis ins hohe Alter frisch und unverbraucht bleiben soll (Ps 90,2.14).
Dies erinnert mich an eine Erfahrung, die meine Frau und ich vor vielen Jahren auf einer Missionskonferenz hatten, als wir uns noch in der Orientierungsphase für einen Dienst in Übersee befanden. Beim gemeinsamen Lobpreis beobachteten wir eine Vielzahl von strahlenden und tief erfüllten Gesichtern von Missionarinnen und Missionaren im Ruhestand. Meine Frau flüsterte mir damals zu, dass sie ebenfalls einmal auf ein erfülltes Leben zurückblicken möchte. Sie wollte nicht bereuen, in etwas investiert zu haben, das vor Gott keinen Bestand hat (vgl. Ps 90,17).
3. Im Kleinen und Unscheinbaren Gottes Grösse erkennen
Der Glaube von Simeon und Hanna war auf den Messias ausgerichtet. Mit prophetischer Klarheit und Weitsicht erkannten sie in dem unscheinbaren und verletzlichen Jesuskind die grosse Heilstat Gottes, die die alttestamentlichen Verheissungen erfüllt. Es ist also nicht verwunderlich, dass Maria und Josef über die Worte der beiden Betagten erstaunt waren, die in dem Kleinkind den von Gott gesandten Retter erkannten (Lk 2,33). Simeon und Hanna waren offenbar imstande, sich für eine prophetische Weitsicht im Heiligen Geist zu öffnen. Inwiefern sind Menschen in einer bestimmten Glaubenstradition imstande, Gottes Heilspläne mit den Augen des Glaubens zu erkennen und zu fördern, auch wenn sich diese möglicherweise in neuen, noch kleinen und versteckten Dingen offenbaren?
4. Gemeinsam den Glaubensmarathon bestreiten
«Lasst uns festhalten am unverrückbaren Bekenntnis der Hoffnung, denn treu ist, der die Verheissung gab. Und lasst uns darauf bedacht sein, dass wir einander anspornen zur Liebe und zu guten Taten: Wir wollen die Versammlung der Gemeinde nicht verlassen, wie es bei einigen üblich geworden ist, sondern einander mit Zuspruch beistehen, und dies umso mehr, als ihr den Tag nahen seht.»
Hebräer 10, 23–25
Der Autor des Hebräerbriefes fordert seine Leserinnen und Leser auf, sich gegenseitig zu ermutigen, damit niemand vom heilsamen Lebensweg abkommt. Die Bibel warnt vor der Gefahr, im Alter den Fokus auf den Herrn zu verlieren. In dieser Hinsicht können die Vorbilder aus dem Anfang des Lukas-Evangeliums als exemplarisch und hilfreich betrachtet werden. Simeon und Hanna sind dem Tempelgottesdienst eng verbunden. Ihr Leben ist geprägt durch das Gebet. Ihr Glaube ist von einer hoffnungs- und erwartungsvollen Grundeinstellung geprägt, die sich im Zeugendienst und im Lobpreis ausdrücken.